Genauer
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„Zehn bis zwanzig Prozent der Kinder weisen bei der Einschulung eine chronische Mittelohr-Schwerhörigkeit auf“, erklärt Karsten Plotz, der neben der Professur an der Jade Hochschule als Facharzt für Pädaudiologie tätig ist. „Derartige Hörprobleme können massive Auswirkungen auf die Sprachentwicklung, den Lese- und Schriftspracherwerb und das Verhalten haben und so zu Schulproblemen oder -ängsten führen.“ Um dem rechtzeitig vorzubeugen, seien genaue und umfassende Tests enorm wichtig. Bei gängigen Tests werde zwar das Sprachverstehen mit technischem Störgeräusch, zum Beispiel Rauschen, überprüft, nicht aber, inwieweit Sprache in Abgrenzung zu anderen Sprachquellen oder Sprechergruppen verstanden wird. Ein Beispiel: Eine Lehrerin steht in der Mitte des Klassenraums und spricht, rechts und links reden Kinder durcheinander. „Wenn mehrere Menschen gleichzeitig sprechen, können Kinder schlechter die wesentlichen Inhalte heraushören und sind durch mehrere informationstragende akustische Reize stärker gestört als Erwachsene.“ Mit dem neuen System ließe sich messen, inwieweit Kinder zwischen Sprache und Störgeräusch unterscheiden können. Auch ob der Störeinfluss auf das linke und rechte Ohr unterschiedlich wirkt, lässt sich feststellen, woraus sich dann zum Beispiel eine Sitzplatzempfehlung im Klassenraum ableiten ließe.
Praktischer
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Anstatt unter Laborbedingungen kann mit dem neuen System das Hören unter alltagsnahen Bedingungen, zum Beispiel im Klassenraum mit mehreren störenden Sprechergruppen, getestet werden. Zudem sind derzeit in der medizinischen Diagnostik nur maximal zwei Lautsprecher gleichzeitig aktiv. Das neue System verwendet deutlich mehr Lautsprecher und kann so akustische Reize sehr viel detaillierter und realitätsnäher simulieren. Das in dem Forschungsprojekt „Perzeption und Lokalisation binauraler Information bei Kindern (PLOBI2go)“ entwickelte System kann auch dort genutzt werden, wo keine besonderen, schallgedämmten Räume zur Verfügung stehen – zum Beispiel in Kindergärten, Gesundheitsämtern oder Kinderärzten. Das gesamte Equipment passt in einen Koffer, ist leicht transportabel, robust und lässt sich in wenigen Minuten aufbauen. Das System besteht aus 45 kleinen Boxen, die kettenartig miteinander verbunden sind und in einem bogenförmigen Halbkreis um die Testperson angeordnet werden. In 29 Boxen sind Lautsprecher enthalten, die anderen sind leer. Optisch sind leere und Lautsprecher-Boxen nicht zu unterscheiden. Das System lässt sich über zwei USB-Kabel mit einem Laptop betreiben. Zudem lässt sich ein kleiner Touch-Monitor anschließen, mit dem die Probanden über eine Bedienoberfläche die Antworten eingeben können. „Bei der Oberfläche war uns wichtig, dass sie für die Kinder motivierend und weitgehend selbsterklärend gestaltet ist“, sagt Schmidt. Hierfür wurden Techniken aus dem Gaming-Bereich genutzt.
Serienmässig
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Ein System ist bereits fertig, vier weitere Prototypen werden den Kooperationspartnern im Frühjahr zur Verfügung gestellt. Die Felderprobung in Kindergärten und Schulen sollte eigentlich in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Friesland schon gestartet sein, wurde aber durch die Pandemie stark eingeschränkt. So können die Messungen derzeit nicht in Kindergärten oder Schulen, sondern nur in klinischen Einrichtungen stattfinden. Trotzdem hält das Team an dem Ziel fest, das Produkt im Jahr 2022 als Medizinprodukt serienmäßig produzieren und anbieten zu können. Auch zum deutschen und internationalen Patent ist PBLOBI2Go bereits angemeldet. Die Wissenschaftler*innen der Jade Hochschule entwickelten das System in Zusammenarbeit mit dem OFFIS e.V. – Institut für Informatik Oldenburg, dem Kompetenzzentrum für Hörgeräte-Systemtechnik (HörTech gGmbH) und mit dem Klinischen Innovationszentrum für Medizintechnik Oldenburg (KIZMO GmbH). Ein Partnerunternehmen aus der Wirtschaft, AURITEC GmbH, arbeitet an der Umsetzung der Produkt-Idee. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt 1,5 Millionen Euro gefördert, wovon 583.000 Euro an die Jade Hochschule gingen, an der fünf Wissenschaftler*innen in dem Projekt mitarbeiten.