Stärke der HAW als kleine und „familiäre“ Lernorte mit kurzen Kommunikationswegen mehr nutzen
Wissenschaftler*innen der Hochschule Biberach haben u.a. unter Mitwirkung der Evangelischen Hochschule Freiburg eine qualitative Untersuchung über „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ vorgelegt. Die Studie zeigt: Größter Wunsch von Studierenden und Lehrenden an HAWs in Baden-Württemberg ist die Rückkehr zur Präsenz – verbunden mit ausgewählten digitalen Elementen.
Gerade haben Ministerpräsident Kretschmann und Wissenschaftsministerin Bauer im Gespräch mit Studierenden über die Lehren aus dem Studium unter Pandemiebedingungen diskutiert und darüber gesprochen, worauf die Politik besonders Acht geben muss. Und sie haben eingeräumt, dass die Studierenden, die sich mittlerweile im dritten Online-Semester befinden, nicht im Fokus standen. Zwischen den Älteren, die besonders gefährdet sind, und den Jüngeren, die eine besondere Unterstützung benötigen, sind die jungen Erwachsenen in der Diskussion der vergangenen knapp eineinhalb Jahren schlicht zu kurz gekommen. Dieses Wahrnehmungsdefizit lässt sich durch die Studie eines interdisziplinär besetzten Teams von Wissenschaftler*innen der Hochschule Biberach (HBC) empirisch bestätigen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die persönlichen Erfahrungen von Lernenden, Lehrenden und Leitenden. Nun liegen die Ergebnisse vor – und zeigen Defizite auf, aber auch konkrete Potenziale, die geschöpft werden können.
„Auf den ersten Blick haben unsere Studierenden mit großer Geduld die Umstellung und Einführung hin zur digitalen Lehre mitgemacht. Auch über die lange Zeit von drei Semestern hinweg wurden Online-Veranstaltungen nie boykottiert oder waren teilnahmegefährdet“, stellt Rektorin Prof.in Dr.in Renate Kirchhoff (Evangelische Hochschule Freiburg) fest. „Doch was ist eine akademische Ausbildung ohne akademische Sozialisation? Was ist mit dem – auch fächerübergreifenden – Austausch mit Mitstudierenden? Welchen Raum hatte der kleine Disput zwischendurch mit Lehrenden? Was ist aus dem Campusleben geworden?“ ergänzt sie. Hochschule sei nicht nur Lernfeld, sondern auch Lebenswelt, so die Rektorin. Diese Lebenswelt sei an physikalische Räume gebunden, die aufgegeben werden mussten.
„Unserer kleinen Hochschule mit rund 1000 Studierenden ging in der digitalen Lehre etwas ab, was sie grundsätzlich auszeichnet. Eine ihrer Stärken kam ihr abhanden: Der direkte Kontakt miteinander, das Lernen und Lehren in unmittelbarer Kommunikation“, fasst Kirchhoff die Corona-Situation für die Evangelische Hochschule zusammen.
„Das Bauchgefühl, vergessen worden zu sein, das viele Studierende u.a. im Dialog mit der Landespolitik formuliert haben, spiegeln sich in unseren qualitativen Interviews wider“, sagt Dr. Sonja Sälzle, Koordinatorin der Untersuchung. Sälzle ist Erwachsenenpädagogin und hat mit weiteren Forscher*innen des Biberacher Instituts für Bildungstransfer die Studie „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ erarbeitet, die die HBC heute (1. Juni 2021) in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg (GHD) im Tectum Verlag veröffentlicht wird.
„Unser Anspruch war es, ein ganzheitliches Bild der Corona-Semester zu rekonstruieren“, sagt Sonja Sälzle. Dafür biete die Methode der qualitativen Interviews – persönlich geführte Gespräche anstelle von Online-Fragebögen – die Chance, „ein vertieftes Verständnis von Alltagserfahrungen zu gewinnen und die unterschiedlichen Perspektiven von Studierenden, Lehrenden sowie den Personen, die in der Hochschulleitung nach den passenden Entscheidungen rangen, zu berücksichtigen“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Auf der Grundlage einer solchen offeneren Form der Datenerhebung können Hochschulen eine tatsächliche Pfadentwicklung skizzieren – für die eigene Institution, aber auch für den Typus Hochschule für Angewandte Wissenschaften insgesamt, der ja wie keine andere Hochschule für Präsenzlehre steht“.
86 Teilnehmende in 19 leitfadengestützte Einzelinterviews sowie 16 Gruppeninterviews mit fächer- und hochschulübergreifenden Fokusgruppen hat das Projektteam in der Zeit von Januar bis Mitte März 2021 geführt. Studierende, insbesondere auch Erst- und Zweitsemester kamen in den Gruppengesprächen zu Wort, ebenso Professor*innen und Lehrbeauftragte. Mitglieder der Hochschulleitungen aus allen teilnehmenden HAWs sowie Lehrende mit Good-Practice-Beispielen wurden in Einzelgesprächen befragt. Über 8000 Minuten Schilderungen von Alltagserfahrungen, Herausforderungen und Wünschen sind so entstanden. „Wir haben belastbare Informationen über die Gesamtsituation erhalten und können daraus Anforderungen, aber auch Möglichkeiten für die Zukunft ableiten“, so Sälzle.
So sahen sich Studierende oftmals unerwartet mit der Gestaltungsnotwendigkeit der räumlichen Wohn-, Arbeits- und Lernsituation konfrontiert, mussten eine neue Struktur für ihren Alltag finden und mitunter Herausforderungen hinsichtlich ihrer finanziellen Situation bewältigen. Sälzle macht dies an einem Zitat aus den Daten deutlich: „Ich arbeite sehr viel nachts (…), aber ich möchte nicht, dass das mein neues Dauerleben ist“. Nach zwei digitalen Semestern schilderten die Befragten laut Sälzle eine digitale Erschöpfung, verbunden mit gesundheitlichen Problemen. Auch Mitglieder der Hochschulleitungen reagierten emotional auf die Ausnahmesituation, die gekennzeichnet war durch Handeln unter Unsicherheit, wie ein Zitat belegt: „Man schläft ja schon unruhig in diesen Zeiten, weil man natürlich immer mit sich ringt: Sind die Entscheidungen, die man trifft, die richtigen?“
Und was wünschen sich die Betroffenen für die Zeit nach der Corona-Distanz? Auf diese Frage gibt die Studie eine eindeutige Antwort: „Die größte Sehnsucht ist die nach dem Zurück zur Präsenz-Hochschule“, berichtet die Soziologin Linda Vogt, die dem Forscher*innen-Team angehört. Ein Zurückfallen in die alte Normalität jedoch sei damit nicht gemeint. So gehen beispielsweise Studierende davon aus, dass innovative Lehr- und Lernmodelle mehr denn je ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Studienwahl darstellen und Hybrid-Modelle – also eine Mischung aus digitalen Formaten und solchen vor Ort – zukunftsweisend sein werden. Sonja Sälzle hebt insbesondere den Mix an Formaten hervor, der sich bewährt, sowie die Interaktion, die sich gerade in der digitalen Lehre als besonders wichtig herausgestellt hat. In der Zukunft sieht die Wissenschaftlerin auf der Grundlage der Daten zum Beispiel die Chance, die reine Wissensvermittlung aus der Präsenz auszulagern. „Diese Einheiten können digital übersetzt werden. So kann sie jeder Studierende eigenständig absolvieren, falls notwendig mehrfach. Und die Lehrenden konzentrieren sich auf die Inhalte, die schwerer zu vermitteln sind und den direkten Austausch und Lerntransfer benötigen“.
Welche möglichen Handlungsfelder sehen die Wissenschaftler*innen für die Hochschulleitungen? Deren Aufgabe liege insbesondere darin, die in der Ausnahmesituation entstandenen Räume tatsächlich zu nutzen und sich strategisch zu positionieren. Dafür gebe es nicht „den einen Pfad post Corona“, sondern der passende Weg sei abhängig von der jeweiligen Standortbestimmung der jeweiligen Hochschule in der Hochschullandschaft. Für eine Digitalisierungsstrategie komme es darauf an, Aspekte einer bewährten Hochschullehre intelligent mit der einer digitalen Erweiterung zu kombinieren, erläutert Sonja Sälzle, etwa im Bereich Arbeits- und Lernwelten. So können Hochschulen ein digitales Miteinander definieren und gleichzeitig den physischen Raum vor Ort für soziale Begegnung und Kommunikation wieder in den Mittelpunkt stellen. Und vor allem: „Die Dualität von Online- und Präsenzlehre überwinden, damit das Beste aus beiden Welten zum Einsatz kommt“, empfehlen die Autor*innen.
Darüber hinaus müssen Hochschulen ihren Gestaltungsraum nach innen ausfüllen und mögliche Hindernisse identifizieren. Zudem benötigen sie Unterstützer, die auf verschiedenen Ebenen agieren und verschiedene Rollen übernehmen, „um Barrieren des Nicht-Wissens, des Nicht-Wollens oder des Nicht-Dürfens zu überwinden“.
Rektorin Renate Kirchhoff: „In jeder krisenhaften Disruption werden Potenziale freigesetzt, die sich auf die Eigendynamiken innovativer Prozesse konzentrieren. Für das Integrieren des Neuen in Bestehendes bleibt dabei manchmal wenig Zeit. So ging es auch uns mit Beginn der Pandemie: wir haben wie im Zeitraffer die Lehre digitalisiert, haben in enormer Beschleunigung in Technik und Medien und Methoden investiert. Einig sind wir uns in der Hochschule, dass es kein Zurück zu einem „Früher“ gibt. Ab jetzt wollen wir uns stärker damit befassen, wie wir die richtigen Konsequenzen aus der disruptiven Innovation ziehen. Eine Schlussfolgerung ist, die Raum- und Zeitvorteile digitaler Kommunikation zu nutzen und in die Lehre als ad-on zu integrieren. Dies kann uns dabei helfen, unsere spezifische Stärke als kleine und „familiäre“ Lernorte mit kurzen Kommunikationswegen noch vielfältiger und flexibler zu gestalten und nutzbar zu machen.“
Und schließlich prognostizieren die Wissenschaftler*innen den Zusammenhang von Digitalisierung und Wettbewerb: Deshalb sei es gerade für HAWs notwendig, die Potenziale der in der Krise entstandenen Innovationen zu schöpfen. Als Handlungsimpuls empfehlen die Autor*innen, Hochschule als Ort von Gemeinschaft und Persönlichkeitsbildung zu verstehen und gleichzeitig Experimentierfelder zu eröffnen, in denen neue Formen von Partizipation und Sozialisation entstehen, Rollenbilder hinterfragt und Heterogenität ermöglicht werden. So kann jede Hochschule für sich sowie alle HAWs gemeinsam ein Zielbild entwickeln und Schritte zur Umsetzung der Strategie einleiten.
Foto: Marc Doradzillo