Klimakrise: „Wir Forschende haben eine Pflicht“
Die Welt lebenswert für künftige Generationen erhalten: Für den Coburger Architektur- und Stadtplanungs-Professor Mario Tvrtković gehört das zu den Aufgaben der Wissenschaft. Im Interview erklärt er, wie Stadt-, Regionalplanung und Energiewende zusammenhängen und warum er sich mit den „Scientists for future“ für die Region Ahrtal einsetzt.
Im Sommer 2021 kam die Flut. Normalerweise regnet es in Deutschland pro Jahr etwa 500 bis 1000 Liter pro Quadratmeter. Im Ahrtal waren es im Juli fast 150 Liter in nur 24 Stunden. Flüsse und Bäche traten über die Ufer, das Hochwasser flutete Häuser. Menschen starben. In der Region geht es jetzt um den Wiederaufbau, und dabei bringt ein Coburger Wissenschaftler seine Expertise ein: Prof. Mario Tvrtković ist Professor für Städtebau und Entwerfen an der Hochschule Coburg und einer seiner Forschungsschwerpunkte ist nachhaltiger Städtebau.
Was haben Sie als Coburger Wissenschaftler mit dem Hochwasser im Ahrtal zu tun?
Mario Tvrtković: Ich kenne die Region. Meine Familie kommt aus Köln, das ist etwa 50 Kilometer vom Kreis Ahrweiler entfernt. Dadurch habe ich gute Kontakte – sowohl privat als auch zu Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft. Außerdem engagiere ich mich im Wissenschaftsnetzwerk Scientists for Future (S4F) und bin dort im Koordinationsteam tätig. Wir sind ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Disziplinen, wir kommen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und wollen angesichts der globalen Klima- und Nachhaltigkeitskrise Lösungsansätze aus der Wissenschaft in die Diskussion bringen. Für die verwüsteten Region des Ahrtals haben wir mit Kollegen aus der Region ein Konzept vorgeschlagen, wie sich ein schneller Wiederaufbau mit der Energiewende und Zielen der nachhaltigen Entwicklung im Kreis Ahrweiler gestalten lässt.
Wie soll der Wiederaufbau sein?
Das besondere an der Situation ist die Dringlichkeit: Die Lebensbedingungen vor Ort müssen schnell verbessert werden. Die Katastrophe zeigt aber auch, dass es sinnvoll ist, die Kräfte und Finanzen für eine klimaschonende, nachhaltige Lösung einzusetzen. Wir empfehlen daher, bei der Neugestaltung der Infrastruktur für Strom und Wärme auf fossile Energieträger zu verzichten. In zwei Schritten kann bis 2030 zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Energetische Gebäudesanierung, kombiniert mit nachhaltiger Wärmeversorgung, ist einer der Schlüssel. Beispielsweise sind Wärmenetze – wo immer es sinnvoll machbar ist – anzustreben. Es braucht ein partizipatives, kooperatives Projekt, an dem sich die Menschen vor Ort beteiligen können. Der Kreis Ahrweiler hat dafür eine Projektgruppe „Energiebewusstes Bauen und Nutzung regenerativer Energien im Ahrtal“ eingerichtet. Deutschlands Regionen müssen sich auf die Klimakrise einstellen. Der Wiederaufbau des Ahrtals könnte bundesweit zu einer Modellregion für klimaschonende Versorgung werden. Ein zukunftsweisender Infrastrukturaufbau ist nur mit einer integrativen Raum- und Siedlungsentwicklung sowie nachhaltiger Mobilität sinnvoll. Es sind langfristige Entscheidungen zu treffen. Ich denke auch darüber nach, mit unseren Studierenden Projekte zu diesen Themen durchzuführen.
Was können wir aus der Katastrophe grundsätzlich für die Stadtplanung lernen?
Wir müssen lernen, dass wir bei der Siedlungsentwicklung mit Flächen so umgehen, dass wir genug Platz für Natur lassen – auch für Flüsse. Wir müssen uns fragen: Wo bauen wir überhaupt? Wie bauen wir? Welche Siedlungsmuster und welche Materialien sind nachhaltig? Es geht um grundsätzliche Fragen der Umweltgestaltung bis zur Biodiversität. Wie können wir im Sinne einer Flächenkreislaufwirtschaft verhindern, dass neue Flächen versiegelt werden – und wenn es sich nicht verhindern lässt, wie können wir im Ausgleich andere Flächen renaturieren und entsiegeln? Insgesamt müssen wir überlegen, wie wir eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung, wie die Transformation hinbekommen, und zwar alle gemeinsam: Bewohnerinnen und Bewohner, kommunale und Landespolitik, Zivilgesellschaft und lokale Akteure jeglicher Art. Ein Beispiel wie es gehen kann ist der Bürgerrat Klima unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten a.D. Horst Köhler.
Welche Bereiche betrifft die Transformation?
Alle. Die Handlungsfelder sind beispielsweise Energie und Wärme, Landwirtschaft/Ernährung, Urbanisierung und Verkehr/Mobilität. Als Forscher sehen wir uns in der Pflicht, das Wissen über die Grenzen unseres Planeten klar zu benennen. Wir brauchen Instrumente der Transformation, die uns Wege zu einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigen, die den Erhalt der Lebensgrundlagen und die Freiheiten der künftigen Generationen nicht einschränkt. Nachhaltigkeitsforschung umfasst deshalb all diese Bereiche. Neben Wissenstransfer geht es auch um soziale und technische Innovation, Instrumente und Praktiken. Beispielsweise haben wir uns gerade mit der Bepreisung von CO2 und anderen Treibhausgasen beschäftigt. Sie ist ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung der Klimakrise. Weil ärmere Menschen einen prozentual höheren Anteil ihres Einkommens für Heizung und Verkehr aufwenden, würde ein Preisanstieg sie härter treffen. In absoluten Zahlen wäre aber der Beitrag der Wohlhabenden größer, weil sie im Schnitt mehr Treibhausgase emittieren. Unser Vorschlag ist, die staatlichen Einnahmen über eine Pro-Kopf-Klimaprämie an die Bevölkerung zurückzugeben. Dann würden ärmere Menschen sogar profitieren.
Foto: Hochschule Coburg