Eine Idee wird 50
Gründung der Fachhochschulen vor 50 Jahren
Die Geschichte der Hochschulen für angewandte Wissenschaften ist voller Überraschungen. Eine davon steht direkt am Beginn ihrer Geschichte: Ausgerechnet die Fachhochschule mit ihren anwendungsorientierten, praktischen Studiengängen, ausgerechnet die Hochschule für Angewandte Wissenschaft, die seit jeher vor allem den technisch interessierten Studierendentyp anzieht, ist dadurch entstanden, dass junge Menschen auf die Straße gingen und für bessere Bildung demonstrierten.
Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man ein paar Jahre zurückgehen. In den frühen 50er Jahren waren quer über das Land verteilt Ingenieurschulen entstanden, die ihre Wurzeln zum Teil im 19. Jahrhundert hatten. Staatliche Ingenieurschulen, deren Zugangsvoraussetzung die Mittlere Reife und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein zweijähriges Praktikum waren. 40 Stunden pro Woche drückten die meist männlichen Studenten die Schulbank. Sie schrieben bis zu 25 Klausuren pro Semester, bekamen regelmäßig Hausaufgaben. Wer den Abschluss schaffte, war ein graduierter Ingenieur.
Die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) legte in den Römischen Verträgen 1957 fest, zum 1. Januar 1970 die Ingenieurausbildung europaweit zu vereinheitlichen. Der Gesetzentwurf stufte graduierte Ingenieure als Techniker ein. Die Fachschul-Ingenieure wären keine Ingenieure mehr gewesen.
„Wir fühlten uns benachteiligt gegenüber Absolventen in anderen Ländern“, sagt Bert Zapart, Jahrgang 1949. Er war dabei, als sich am 22. März 1968 die Studenten zur Vollversammlung im Audimax Krefeld trafen und einen Demonstrationszug durch die Stadt mit anschließender Fahrt nach Düsseldorf planten. Ihre Ziele wurden mit der Zeit konkreter: Sie wollten Lehrveranstaltungen selbst wählen dürfen, die Ingenieurschulen sollten in den Hochschulbereich überführt werden, die theoretische Bildung besser sein. Die Ingenieurschüler wollten Studenten werden.
Zum Sommersemester 1968 startete die erste große Demonstrations- und Streikwelle. An vielen Schulen wurden die Vorlesungen boykottiert. Während die Kommilitoninnen und Kommilitonen an den großen Universitäten in Berlin, Frankfurt oder Göttingen über die Streiks in der Provinz die Nase rümpften und diese als unpolitisch abtaten, zeigten diese Wirkung.
Am 5. Juli 1968 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder den neuen Hochschultyp Fachhochschule einzuführen. Am 31. Oktober 1968 folgte das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesen“. Darin wurde erstmals ein vager Bildungsauftrag formuliert: „Sie vermitteln eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Bildung.“
Die Länder, vorneweg Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, erließen Fachhochschulgesetze, die den Weg zur Errichtung des neuen Hochschultyps ebneten. Schleswig-Holstein preschte vor. Schon zum 1. August 1969 nahmen in Lübeck, Kiel und Flensburg die ersten drei Fachhochschulen ihren Betrieb auf. Die anderen Bundesländer brauchten etwas länger. Nordrhein-Westfalen erließ am 8. Juni 1971 das Gesetz über die Errichtung von Fachhochschulen. Deren Gründung erfolgte in vielen Fällen zum 1. August des Jahres.
In § 2 des NRW-Gesetzes wurde der Bildungsauftrag etwas konkreter formuliert: „Die Fachhochschulen vermitteln durch praxisbezogene Lehre eine auf wissenschaftlicher oder künstlerischer Grundlage beruhende Bildung, die zur selbstständigen Tätigkeit im Beruf befähigt. Sie betreiben auch Fortbildung und Weiterbildung. Sie können im Rahmen ihres Bildungsauftrags eigene Untersuchungen durchführen sowie Forschungs- und Entwicklungsaufgaben wahrnehmen.“
Dieser letzte Satz sollte noch wichtig werden, erlaubte er doch den neuen Fachhochschulen prinzipiell Forschung zu betreiben – auch wenn sie rein personell dazu kaum in der Lage waren. Lehrende waren die ehemaligen Räte, die zwar studiert, aber in aller Regel nicht promoviert oder irgendeine andere nennenswerte wissenschaftliche Tätigkeit ausgeübt hatten.
Dennoch war die Sorge groß, dass die Aufwertung zur Fachhochschule eine leere Formel blieb, ein „Schilderwechsel“ ohne Konsequenz. Denn ein echter Bildungsauftrag war nicht formuliert. Es fehlte ein theoretisches Fundament. In NRW waren die Fachhochschulen sogar nur als Übergangslösung bis zur Entstehung der Gesamthochschulen vorgesehen. Das bremste den Eifer der Gründer. Schon die Zeitgenossen ahnten, dass sich mit diesem neuen Hochschultyp das Sozialprestige-Gefälle zwischen Universität und Ingenieurschule nicht beseitigen ließ. Der Abiturient aus bürgerlichem Haus würde die Fachhochschule genauso meiden wie vorher die Ingenieurschule. Der SPIEGEL schrieb in weiser Voraussicht am 6. Oktober 1971: „Fachhochschulen mögen billiger werden, wenn sie auf Forschung weitgehend verzichten; ohne Forschung oder Zugang zur Forschung aber scheint wissenschaftlich orientierte Lehre heute kaum noch möglich.“
Umso erstaunlicher ist die Entwicklung der Fachhochschulen nach den Gründungsjahren 1969 bis 1972. Obwohl denkbar ungünstig gestartet, entwickelten sie sich zum Erfolgsmodell. Mehrere Entwicklungs-Schritte sorgten dafür, dass wir heute von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit klarem Profil sprechen, die sich nicht mehr als zweitrangig gegenüber den etablierten Universitäten fühlen müssen.
So wurden nach der Wiedervereinigung 1990 in allen Bundesländern neue Hochschulgesetze auf den Weg gebracht, die der anwendungsbezogenen Forschung und Entwicklung an den Fachhochschulen größeren Raum gaben. Erstmals wurde Forschung als Pflichtaufgabe genannt. Ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass in den neuen Bundesländern Hochschulen zu Fachhochschulen herabgestuft wurden, aber diese neuen Fachhochschulen von habilitierten Wissenschaftlern betrieben wurden, die nicht bereit waren, ihre Forschung aufzugeben. Sie nahmen ihre Forschung in die Fachhochschule mit.
Die Hochschul-Reform von Bologna 1999 stellte die Abschlüsse der Fachhochschulen auf eine Ebene mit den Universitätsabschlüssen. Am 13. April 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass sich auch Fachhochschulprofessoren auf Artikel 5 Abs.3 des Grundgesetzes berufen können. „Schließlich haben sich Annäherungen zwischen Universitäten und Fachhochschulen im Zuge des so genannten Bologna-Prozesses ergeben, die erkennen lassen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch Fachhochschulen als wissenschaftliche Ausbildungsstätten angesehen werden sollen“, hieß es in der Begründung.
2013 wertete der Wissenschaftsrat den Begriff „Transfer“ auf und wandte ihn auf die moderne Hochschulwelt an: „Wissenschaft leistet auch einen wesentlichen Beitrag zur Innovationsfähigkeit, also zur Erneuerung und weiteren Entwicklung der Gesellschaft, nicht zuletzt der Wirtschaft.“ Es war der Ritterschlag für die Fachhochschulen, die schon immer die Anwendung von Wissenschaft der Grundlagenforschung dem Vorrang gegeben hatten.
Heute ist es vor allem die Europäische Union, die über regionale Förderprogramme als Anwalt der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften auftritt. Wie man es dreht und wendet: 50 nach ihrer Gründung sind die Fachhochschulen unter dem Namen Hochschule für Angewandte Wissenschaften erwachsen geworden.